Vom jungen Schläger zum Verwahrten

1013059_m3t1w624h350v46641_urn-newsml-dpa-com-20090101-141120-99-08896_large_4_3Früher randalierte er und prügelte auf der Strasse, später schlug er seine Mithäftlinge. Nun sitzt der 28-jährige Solothurner in der kleinen Verwahrung.

Solothurner Zeitung/ 23-07-2015

Mit 18 zog er durch die Solothurner Weststadt und zertrümmerte bei sieben parkierten Autos die Frontscheibe. Ein paar Jahre später nahm er regelmässig Kokain, kiffte und ging eines Tages mit einem Aschenbecher auf seinen Stiefvater los. Mit 23 schlug er in der Kulturfabrik Kofmehl mehrmals gegen den Kopf eines jungen Mannes – mit einem Totschläger. Das Opfer musste zur notfallmässigen Behandlung ins Spital.

Das war vor fünf Jahren. Heute ist Roman* 28 Jahre alt und hat seine Strafe abgesessen. Eigentlich. Der Schweizer wurde 2011 verurteilt zu zweieinhalb Jahren – aber eben auch zu einer stationären Massnahme, der kleinen Verwahrung. Diese sind vor Gericht besonders gefürchtet. Massnahmen nach Artikel 59 des Strafgesetzbuches versorgen Straftäter für fünf Jahre, und sie können wieder und wieder verlängert werden. Und zwar bis die psychiatrischen Gutachter und letztlich das Gericht befindet: vom Täter gehe nun keine Gefahr mehr aus für die Gesellschaft. Diese Frage stellte sich am Dienstag vor dem Amtsgericht Solothurn-Lebern: Soll Roman freikommen oder für weitere fünf Jahre in der kleinen Verwahrung bleiben? Im Mai 2016 läuft seine Massnahme aus.

Zigarette auf Arm ausgedrückt

In Hand- und Fussfesseln wird er in den Gerichtssaal geführt. Weisse Nike-Schuhe, schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt, Silberkette, kurz geschorene Haare, breite Schultern. Von seinen kräftigen Armen möchte man keine Schläge erhalten. Doch solche teilt Roman immer wieder aus. In Untersuchungshaft vor fünf Jahren beteiligte er sich an einem Angriff auf zwei Mitinsassen. Mit geballten Fäusten schlug er gegen Oberkörper und Gesichter, später traktierte er die Opfer mit Fusstritten. Einem der beiden schlug er den Kopf mehrmals gegen die Zellentür und drückte ihm eine Zigarette aus auf dem Oberarm.

Der Gutachter, Lutz-Peter Hiersemenzel, Chefarzt forensische Psychiatrie Solothurn, erkannte damals einen Zusammenhang zwischen Romans Taten und einer schweren Persönlichkeitsstörung. Deshalb verhängte das Gericht eine stationäre Massnahme. Um eine solche auszusprechen, braucht es zwei Voraussetzungen: Erstens müssen Tat und psychische Störung in einem direkten Zusammenhang stehen. Zweitens soll eine Therapie künftige Taten, die aufgrund der psychischen Störung geschehen, verhindern können. Ein Gericht muss zudem klären, ob eine 59er-Massnahme überhaupt verhältnismässig ist. Ein notorischer Schwarzfahrer würde anders bewertet als ein notorischer Vergewaltiger.

Stimmen aus der Steckdose

Die Therapie wirkte bei Roman bisher nicht. Er verweigerte sich und geriet in eine Schlägerei mit seinem Zimmernachbarn. Deshalb kam er vom Deitinger Therapiezentrum im Schachen wieder ins Untersuchungsgefängnis Solothurn, und von dort für kurze Zeit weiter in die Strafanstalt Zug. Gemäss Antrag des Massnahmenvollzugs habe er sich dort völlig zurückgezogen, sich aggressiv verhalten.

Seine Medikamente nahm er nicht, sondern sammelte und pulverisierte sie und zog sie durch die Nase. Später soll er Stimmen aus einer Steckdose gehört haben. 2013 schrieb Hiersemenzel eine Einschätzung: Es habe keine Fortschritte gegeben, im Gegenteil. Roman sei in einem psychisch schlechteren Zustand, als vor drei Jahren bei der Erstellung des Gutachtens. Aus fachlicher Sicht mache eine Fortführung der therapeutischen Massnahme keinen Sinn.

Was also tun? Nachträglich verwahren oder in Freiheit entlassen, wie es Romans Verteidiger fordert? In Artikel 62c des Strafgesetzbuches steht: «Die Massnahme wird aufgehoben, wenn deren Durch- oder Fortführung als aussichtslos erscheint.» Und seine Strafe hat er ja längst gebüsst.

Solche Fälle häufen sich

Mit solchen Fragen müssen sich die Gerichte künftig häufiger auseinandersetzen. Die Option einer 59er-Massnahme, der sogenannt kleinen Verwahrung, besteht gesetzlich seit 2007. Laut Thomas Fritschi, Leiter Justizvollzug Solothurn, gibt es nun viele Straftäter, die bald zehn Jahre in stationärer Behandlung verbracht hätten. «Wenn die Massnahme selbst nach Verlängerung keine Wirkung zeigt, wird die Verwahrung ein Thema», sagt er. Laut Fritschi sprechen die Gerichte heute weniger oft direkt Verwahrungen aus. Sie setzten erst eher auf die stationäre Massnahme. Das ist freilich auch eine Kostenfrage: Finanziert die Gesellschaft lieber fünf Jahre eine stationäre Therapie oder für Jahrzehnte eine Verwahrung?

An Romans Gerichtsverhandlung wird schnell klar: Eine Verwahrung ist kein Thema. Noch nicht. In der Klinik im zürcherischen Rheinau, wo er sich derzeit befindet, zeigen sich Hoffnungsschimmer. «Ich habe mich geändert», sagt er. «Ich habe aus meinen Fehlern gelernt, dass ich nicht immer gleich zuschlage.» Medikamente machen ihn nun ruhiger.

Roman sieht aus wie ein zu schnell in die Höhe und Breite geschossener Junge. Bei der Befragung zittern seine Hände. Die Therapie mit ihm sei schwierig, sagt der Gutachter. Gespräche mit Ärzten hält er kaum länger aus als 10 Minuten. Und der Arbeitstherapie verweigere er sich. Statt hinter Gittern Schnüre zu knüpfen, möchte Roman lieber draussen Arbeiten. Am liebsten auf dem Bau als Maler.

Neuer Gutachter hat Hoffnung

Im Herbst 2013 wurde der damals 25-Jährige in die Bewachungsstation des Berner Inselspitals eingewiesen. Die Ärzte diagnostizierten eine schizophrene Psychose. Und deshalb sitzt nun nicht der Solothurner Gutachter Hiersemenzel im Gerichtssaal, sondern Michael Schlichting von der forensischen Psychiatrie der Uni Bern. Dank der neuen Diagnose schätzt Schlichting die Therapierbarkeit höher ein. Eines aber sei klar: «Ausbrüche der Aggression kann es an jedem Ort geben, zu jeder Zeit. Ein eigenartiger Blick genügt.» Doch könne es gut sein, dass Roman seine Krankheit akzeptiere bei einer Verlängerung.

Das Gericht folgt der Empfehlung des neuen Gutachters – und verlängert die Massnahme um fünf Jahre. Die Gefahr für die Gesellschaft sei noch zu gross, sagt der Gerichtspräsident. Roman verzieht keine Miene. Teilnahmslos nimmt er sein Urteil entgegen.

*Name geändert

43 Straftäter in einer 59er-Massnahme betreut der Kanton Solothurn derzeit. Dies kann in verschiedenen Einrichtungen erfolgen: Entweder in Massnahmenvollzugszentren, in psychiatrischen Kliniken oder in privaten Wohnheimen. Je nach Unterkunft unterscheiden sich die Kosten. Einen Tag in der JVA Solothurn kostet über 650 Franken. Das sind um die 240000 Franken pro Jahr.