«Wir müssen mehr zuhören»

Foto: Sandra ArdizzoneIm ersten Doppelinterview erzählen Monika Rühl und Heinz Karrer von ihrer Zusammenarbeit bei Economiesuisse und erklären, wieso Pferdemist sie optimistisch in die Zukunft blicken lässt.

Aargauer Zeitung / 07-09-2015, zum Printartikel

von Bastian Heiniger und Annika Bangerter

Herr Karrer und Frau Rühl, seit einem Jahr führen Sie gemeinsam Economiesuisse. Wer hat hinter den Kulissen das Sagen?

Karrer: Monika Rühl leitet als Direktorin die operativen und ich als Präsident die strategischen Geschicke. Die Kommunikationsaufgaben nehmen wir beide wahr, etwa Gespräche mit Medien oder Teilnahmen an Podien. So können wir stärker präsent sein.

Rühl: Wir entscheiden nicht, wer hinter oder vor der Kulisse etwas macht, sondern, ob eine Aufgabe strategisch oder operativ ist. Das lässt sich natürlich nicht immer klar unterscheiden. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns regelmässig austauschen und abstimmen. Wir treffen uns alle zwei Wochen zu einem ausführlichen Gespräch. Dazwischen nutzen wir die elektronischen Mittel.

Wie gehen Sie bei unterschiedlichen Meinungen vor?

Rühl: Unser Know-how und unsere Erfahrungen ergänzen sich ideal. Heinz Karrer hat die Wirtschaftserfahrung, ich bringe das Wissen aus Verwaltung und Politik mit. Wenn wir diskutieren, können beide ihre Stärken einbringen. So finden wir gute Lösungen.

Karrer: Deshalb hatten wir bislang keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten. Wir entwickeln in Diskussionen eine gemeinsame Haltung zu den Themen, aber auch zu unserem Vorgehen.

Sie sagten, dass Sie sich die Medienarbeit teilen. In der Schweizerischen Mediendatenbank (SMD) haben Sie, Herr Karrer, aber doppelt so viele Treffer.

Rühl: Er ist natürlich ein Jahr länger im Amt. (lacht)

Wir haben nur die Treffer im letzten Jahr gezählt. Ist es typisch Frau, mehr im Hintergrund zu arbeiten?

Rühl: Überhaupt nicht. Ich bin im Februar 2014 gewählt worden und habe an einer Medienkonferenz von Economiesuisse teilgenommen. Dort präsentierten mich Heinz Karrer und unser Vizepräsident Hans Hess gegenüber den Medien. Danach sagten wir uns: «Nun verschwindet Monika Rühl von der Medienfläche, bis sie am ersten September ins Amt kommt.» Deshalb dauerte es eine Weile, bis die Medien meinen Start wahrnahmen. Zudem ist es normal, dass der Präsident eine gewichtigere Rolle in der öffentlichen Wahrnehmung hat.

Frau Rühl, Sie waren vorher beim Bund vor allem im Hintergrund tätig. Wie gehen Sie nun mit der Öffentlichkeit um?

Rühl: Das war für mich neu. Aber ich habe mich daran gewöhnt – und es macht mir Spass. Ich stand in meiner vorherigen Funktion auch ab und an im Kontakt mit Journalisten. Allerdings nie in diesem Ausmass. Nun verstehe ich besser, wie Journalisten ticken. Weil Heinz Karrer und ich im Tandem arbeiten, gibt uns das eine breitere Klaviatur. Beispielsweise werde ich oft zu Frauenthemen angesprochen.

So harmonisch wie zwischen Ihnen ist das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Bevölkerung nicht. Die Abzocker- und die Masseneinwanderungsinitiative zeigten, dass es einen Bruch gab.

Rühl: Das habe ich bereits festgestellt, als ich noch in Bern tätig war. Auch zwischen Wirtschaft und Politik mangelt es teilweise an gegenseitigem Verständnis. Die Wirtschaftsleute verstehen oft nicht, wie die Politik funktioniert – und umgekehrt. Es darf nicht sein, dass Wirtschaft und Politik zunehmend auseinanderdriften.

Wie wollen Sie das ändern?

Rühl: Wir haben das Programm «Wirtschaft und Gesellschaft» lanciert. Damit wollen wir erklären, wie die Wirtschaft funktioniert, was ihre Bedürfnisse sind und welche Rahmenbedingungen sie braucht. Zudem müssen wir mehr zuhören – den Politikern, aber vor allem auch der Bevölkerung. Nur so können wir ihre Anliegen und Ängste besser verstehen.

Viele Menschen ärgern sich über die hohen Gehälter von Managern. Wann werden diese nach unten angepasst?

Karrer: Die damals diskutierten, extremen Gehälter, die insbesondere nicht mit der Wertentwicklung der Unternehmen übereinstimmten, gibt es heute nicht mehr. Dazu beigetragen hat auch eine Kompetenzverschiebung hin zu den Aktionären. In der Schweiz haben wir zudem eine ausgeglichenere Einkommensverteilung als etwa in Frankreich oder in Deutschland.

Rühl: Im erwähnten Programm «Wirtschaft und Gesellschaft» arbeiten wir unter anderem mit Wirtschaftsbotschaftern zusammen. Das sind ausgewählte Persönlichkeiten, die regional verankert sind. Patrons im traditionellen, positiven Sinn, die für ihre Belegschaft sorgen. Es ist wichtig, diese persönliche Seite der Unternehmen wieder hervorzuheben. So können wir zeigen, dass die Wirtschaft sehr vielfältig ist und es sich bei den damals diskutierten Salären um Einzelfälle handelt.

Die Leute stören sich wohl nicht an den regional verankerten Patrons. In den letzten Jahren wurden vermehrt ausländische CEOs geholt, die genau deren Verwurzelung nicht haben und nach ein paar Jahren wieder weiterziehen.

Karrer: Diese Entwicklung gibt es infolge der zunehmenden Globalisierung tatsächlich. Wir bemühen uns, diese ausländischen Führungskräfte entsprechend zu sensibilisieren, dass sie sich in der Schweiz zumindest indirekt am wirtschaftspolitischen Geschehen beteiligen.

Seit Januar versetzt der starke Franken das Land in Aufregung. Wie gefährlich ist er tatsächlich für die Wirtschaft?

Karrer: Sehr viele Unternehmen sind mit grossen Herausforderungen konfrontiert. Es gibt Investitionsstopps, Schliessungen und Verlagerungen von Produktionsstandorten oder spezifischen Unternehmenstätigkeiten in andere Länder. Internationale Unternehmen investieren zudem mehr und mehr im Ausland. Hinzu kommt das deutlich geringere Interesse bei Neuansiedlungen. Unsere grösste Sorge ist jedoch, dass wir erst am Anfang dieses Prozesses stehen. Wir müssen davon ausgehen, dass wir in der Schweiz viele Arbeitsplätze verlieren werden – einen Grossteil davon auch in der Industrie. Hat die Verlagerung von Stellen ins Ausland einmal stattgefunden, lässt sie sich kaum wieder rückgängig machen.

Wie lässt sich dieses Szenario verhindern?

Rühl: Die Unternehmen müssen über Einsparungen ihre Kosten reduzieren können. Wir wollen keine vom Staat lancierten Impulsprogramme. Diese bringen nichts. Was den Unternehmen zu schaffen macht, sind die Kosten. Darum gibt es aus wirtschaftspolitischer Sicht nur einen Weg: auf kostentreibende Regulierungen verzichten. Hier geht es um bereits bestehende Regulierungen, deren Sinnhaftigkeit hinterfragt werden muss. Aber ganz besonders auch um die Einführung neuer Regulierungen – wie beispielsweise die Frauenquote oder die Vorlage «Grüne Wirtschaft».

Die Frauenquote und der starke Franken sind zwei weit auseinanderliegenden Themen. Was haben sie gemeinsam?

Rühl: Der Bundesrat schlägt vor, dass Firmen, welche die Quote nicht erfüllen, begründen müssen, weshalb das nicht möglich war. In den Firmen muss folglich jemand dazu einen Bericht schreiben. Das kostet Geld.

Karrer: Der Frankenschock ist massiv. Und es bestehen ja bereits Unsicherheiten. Deshalb müssen Regulierungen, hinter denen kein oder kein grosser Nutzen steckt, gestoppt werden. Die Unternehmen sind schon genug gefordert.

Sie sagten, wir befänden uns erst am Anfang einer schwierigen Phase. Heisst das, es darf in den nächsten zehn Jahren keine Regulierungen mehr geben?

Karrer: Überhaupt nicht. Aber die Regulierungen müssen sinnvoll sein, die internationale Situation mitberücksichtigen und einer Kosten-Nutzen-Analyse standhalten. Aufgrund der zusätzlichen Verteuerung durch den starken Franken müssen wir uns immer fragen, ob wir mit einer neuen Regulierung die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im internationalen Vergleich nicht zusätzlich verschlechtern.

Die Grundlagen unseres Wirtschaftssystems basieren auf Wachstum. Die Ressourcen der Erde sind aber endlich. Wie lange funktioniert dieser Weg noch?

Rühl: Diese spannende Diskussion begleitet die Menschheit schon lange. Das zeigt sich zum Beispiel an London im Jahr 1885. Damals dachten die Menschen, dass die Stadt in den nächsten 100 Jahren grosse Probleme wegen des zunehmenden Pferdemists bekommen würde. Sie gingen davon aus, dass der Kutschenverkehr linear wächst und es somit immer mehr Pferde auf den Strassen gäbe. Das Beispiel zeigt, wie sich die Menschen zu jeder Zeit vorstellen, alles würde gleich bleiben. Dadurch sehen sie stets die Grenzen des Wachstums. In Bezug auf London wissen wir heute, dass auf die Kutschen Autos folgten. Deshalb müssen wir Wachstum als Technologieentwicklung betrachten.

Karrer: Ein weiterer Aspekt ist, dass Wachstum häufig als Mengenwachstum betrachtet wird. Dann sind die Ressourcen tatsächlich endlich. Wir sollten aber ein Wachstum auf der Basis von Mehrwert anstreben.

Wie die Studie von «Global Footprint» zeigt, brauchte es aber drei Planeten, würden alle Länder so viele Ressourcen verbrauchen wie die Schweiz.

Karrer: Die Diskussion ist deshalb so schwierig, weil das Wohlstandsgefälle der Länder so weit auseinanderklafft. Entwicklungsländer lassen sich nicht mit einem Industriestaat vergleichen. Handlungsbedarf aber ist unbestritten vorhanden – ebenso ein Nachholbedarf bei den Entwicklungsländern. Je innovativer wir sind und je mehr Wohlstand wir schaffen, umso stärker können wir in den Umweltschutz investieren.

Rühl: Das ist in der Vergangenheit auch passiert. So können wir heute wieder in allen Schweizer Seen oder Flüssen baden. Auch die Waldfläche hat in der Schweiz zugenommen. Das gestiegene Bewusstsein für Nachhaltigkeit in der Bevölkerung, aber auch in der Wirtschaft, zeigt sich an solch positiven Beispielen.

Das Modell des Wachstums bleibt also die Grundlage für die Volkswirtschaften?

Karrer: Es ist schwierig, eine Aussage für die Zukunft zu treffen. Gelingt es uns, das qualitative Wachstum zu verstärken, dann gehe ich davon aus, dass wir bei diesem Modell bleiben. Denn was man stets kolossal unterschätzt, ist die Anpassungsfähigkeit und Innovationskraft der Menschen.

Rühl: Richtig. Ende des 19. Jahrhunderts konnten sich die Menschen auch nicht vorstellen, wie sie das Problem mit dem Pferdemist lösen sollen. Für sie gehörten Pferde wie für immer zum Strassenverkehr. Als Kind wäre mir beispielsweise nie in den Sinn gekommen, dass es Computer geben wird. Ich bin überzeugt, dass es in den nächsten 50 Jahren Entwicklungen gibt, die wir uns heute nicht ansatzweise vorstellen können.

Der Pferdemist von damals lässt sich doch nicht mit der heutigen Technologie vergleichen. Diese ist schliesslich auf endliche Ressourcen angewiesen.

Rühl: Wie können Sie wissen, ob man in zehn oder zwanzig Jahren diese Rohstoffe noch braucht? Es kann beispielsweise auch Entwicklungen von synthetischen Treibstoffen geben. Karrer: Auch die Nanotechnologie verfügt beispielsweise über viel Potenzial. Die Schwierigkeit besteht darin, sich die Innovationskraft in diesem ressourcenschonenden Bereich vorzustellen.

Auch der Schuldenberg wächst. Die Europäische Zentralbank (EZB) bringt jeden Monat 60 Milliarden Franken auf den Markt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Können diese jemals abgebaut werden?

Karrer: Kommt durch das Ankurbeln der EZB die Wirtschaft wieder in Gang, werden die notwendigen Reformen umgesetzt und kann Mehrwert geschaffen werden – dann geht das Vorhaben auf. Damit können die Schulden wieder zurückbezahlt werden.

Rühl: Die Länder und Volkswirtschaften suchen ja das Wachstum. Das sieht man in Asien oder in Schwellenländern – und inzwischen auch in Europa mit seinen Wachstumsprogrammen. Es ist der beste Motor, um die Menschen aus der Armut zu bringen. In der Schweiz führten wir rund um Ecopop eine intensive Diskussion. Seit dem 15. Januar nahmen die wachstumskritischen Stimmen ab. Denn Wohlstand ist ein Ziel, das alle unsere Gesellschaften haben.

Aber hat die Strategie der EZB bereits erste Erfolge gezeigt?

Karrer: Es gibt Konjunkturindikatoren, die einen Silberstreifen am Horizont zeigen. Die Frage ist, wie nachhaltig diese sind. Wir sind überzeugt, dass es grössere Reformanstrengungen in vielen Ländern Europas bräuchte, damit deren Volkswirtschaften wieder in Schwung kommen. Deshalb befürchten wir, dass es ein viel längerer Prozess ist, bis Europa wieder zu einem nachhaltigen Wachstum findet.

Rühl: Momentan sind die Erdölpreise tief, was auch einen Ankurbelungseffekt hat. Es ist deshalb schwierig, zu sagen, wie das Wachstum in Europa exakt generiert wird. Was man dabei berücksichtigen muss: Solange das Programm der EZB läuft, findet eine Schwächung des Euros statt. Das ist für die europäischen Exporteure praktisch, ihre Produkte werden günstiger. Aber für die Schweiz ist das problematisch, weil ein schwacher Euro tendenziell einen starken Franken ergibt.

Zum Schluss möchten wir nochmals über Ihre gemeinsame Arbeit sprechen. Wie haben Sie das erste Jahr jeweils erlebt?

Karrer: Insgesamt befindet sich der Verband selber in deutlich ruhigerem Fahrwasser – was auch zwingend nötig war. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass nun alle Funktionen mit kompetenten Mitarbeitenden besetzt sind. Das gibt Stabilität und Ruhe. Die Zusammenarbeit mit Monika Rühl war von Anfang an reibungslos, gut strukturiert und auch unkompliziert – insgesamt ist es für mich eine sehr erfreuliche Erfahrung.

Rühl: Ich stelle ebenfalls eine Beruhigung in der Wahrnehmung von Economiesuisse fest. Wir erhalten positive Rückmeldungen auf unsere Arbeit. Als ich hier begann, traf ich auf ein hoch motiviertes Team, das aber aus einer schwierigen Situation kam. Die neue Aufstellung und die positiven Feedbacks geben für alle noch mehr Schub. Die Zusammenarbeit mit Heinz Karrer ist für mich ideal. Ich hoffe, sie wird noch lange dauern.

Zu den Personen:

Monika Rühl ist seit einem Jahr die Geschäftsleiterin von Economiesuisse. Als erste Frau leitet sie den Wirtschaftsverband. Bevor sie sich zur Diplomatin ausbilden liess, hat sie Geschichte und Romanistik studiert. In Bern war sie unter anderem persönliche Mitarbeiterin von Bundesrat Joseph Deiss und Generalsekretärin des Eidgenössischen Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF).

Heinz Karrer war zwölf Jahre lang CEO des Energiekonzerns Axpo, bevor er 2013 zu Economiesuisse als Präsident wechselte. Seine Karriere begann er als Geschäftsführer des Sportartikel-Lieferanten-Verbands und von Intersport Schweiz. Seine weiteren Stationen waren bei Ringier und Swisscom. Seit 2014 ist er Verwaltungsratspräsident von Kuoni und Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank (SNB).