An den Tod dachte er erst nach dem Krieg

Foto: Chris IseliHans Jörg Leu (90) hielt als Ortswehr-Soldat auf der Badener Allmend die Stellung gegen die Nazis – für den Fall, dass diese in die Schweiz eingefallen wären. Heute sagt Leu, er wären bloss Kanonenfutter gewesen.

 

Aargauer Zeitung 05-05-2015 (gekürzte Version)

Ausgerüstet mit einer Wollmütze, grüner Feldjacke und einem Langgewehr mit sechs scharfen Patronen steht der 16-jährige Hans Jörg Leu auf der Badener Allmend – bereit zu kämpfen, wenn die deutschen Truppen einmarschieren. Sein Auftrag: die Verteidigung der Panzersperren. Mindestens für eine halbe Stunde soll die Ortswehr zusammen mit den Grenzschutzsoldaten die Stellung halten, den deutschen Vormarsch verzögern. Zeit, damit sich die Reduit-Truppen sammeln und in die Berge zurückziehen können.

Über 70 Jahre später steht Leu, der ehemalige Ortswehr-Soldat, wieder auf der Allmend. «Wir wären Kanonenfutter gewesen», sagt der 90-Jährige heute und schaut über die Wiese hoch zur Waldböschung. Von dort hätten bei einem Angriff die verfeindeten Panzer und Soldaten einfallen sollen.

Vögel zwitschern, ein Wind kräuselt über das Feld. Einige Panzersperren stehen noch immer. Eineinhalb bis zwei Meter hoch sind sie, massive Betontrapeze, von Moos überzogen. Stille Zeugen, die auch heute zur Absperrung dienen – für die Gärten der Einfamilienhäuser dahinter.

Der damalige Sinn der Panzersperren ist Leu heute unklar. Die Deutschen wären kaum über das nahe Gebenstorfer Horn nach Baden vorgerückt, sagt er.

Die früher 300 Meter lange Anlage auf der Badener Allmend war Teil der Limmatlinie, die sich grösstenteils vom Zürichsee bis zum Hauenstein zog und das Mittelland absichern sollte. Alle zwei Wochen trafen sich dort die Jünglinge und altgedienten Soldaten der Ortswehr: Exerzieren, Manöverübungen, Schiessen. Weit hatte Leu nicht, sein Elternhaus stand direkt hinter einer der Panzersperren.

Foto:Chris Iseli

Heute wohnt Leu mit seiner Frau in einer Wohnung unweit der Badener Altstadt. Zeitweise aber auch im Tessin, wo er in der Nähe von Lugano ein Haus besitzt, an einem Steilhang. Er sei unterdessen ein halber Tessiner. Nach seinem Medizinstudium arbeitete er in den 50er-Jahren an der ehemaligen Militärklinik von Novaggio. Danach unterhielt er eine Praxis in Baden.

Seit der Pensionierung widmet er sich seiner Leidenschaft: Schreiben. Die «Tessiner Zeitung» druckt regelmässig Leus Kurzgeschichten. Zehn Bücher hat er veröffentlicht. In «Büchsenlicht» verwebt er eine fiktive Liebesgeschichte mit Erinnerungen an den Schweizer Luftkampf gegen die Nazis, Juni 1940. Die Jagdflieger, das waren seine Jugendhelden. Noch heute klingen in ihm sofort die Namen auf: Lindecker, Egli, Albert Ahl, Walo Hörning. Sein Vater habe einige Piloten gut gekannt.

Noch einmal streift er mit seiner Hand über eine der Panzersperren. Entschieden stosst er sich dann an und geht den Weg hinunter zur Strasse, mit eilenden Schritten und leicht gekrümmtem Rücken.

Die Frauen der G.I.’s

Zurück in der Wohnung zieht Leu ein Fotoalbum aus dem Regal, zeigt auf ein Foto: Flankiert von zwei amerikanischen G.I.‘s spaziert er als 19-jähriger Student durch eine Schweizer Ortschaft; Hände in den Hosentaschen, Anzug, Sonnenbrille, eine zur Seite gekämmte Haartolle fällt ihm ins Gesicht. Wo das Foto genau entstanden ist, weiss er nicht mehr. Vielleicht in Basel, Bern, Luzern, vielleicht in Interlaken. Leu zog mit amerikanischen Truppen durch die halbe Schweiz – als Reiseführer.

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Im Sommer 1945 machte er in Zürich Matur. Der Krieg war vorbei und in der Zeitung wurden Studenten gesucht. Studenten, welche die in Deutschland und Frankreich stationierten amerikanischen Truppen herumführen sollen, ihnen das von Kämpfen verschonte Land zeigen. Tagessold: Zwei Franken.

Während Leu erzählt, wie er wegen seiner guten Englischnoten ausgewählt wurde, serviert seine Frau Tee und Schockoladenschümli. Und verabschiedet sich dann. Sie will noch rechtzeitig zum Markt; frische Bohnen und Kartoffeln kaufen fürs Mittagessen. Ihr Mann lässt sich in seinem Redefluss nicht unterbrechen. Sein Blick ist nun wacher, die Augen leuchten hinter seiner zu grossen Brille. «Die Amerikaner wurden in der Schweiz als Helden empfangen», sagt er. «Vor allem von den Frauen.»

«Frauen waren leichter zu erringen als Uhren»

Die Schweiz offerierte den Erlösern aus Übersee eine Woche Urlaub und ein Taschengeld von 150 Franken. Bis zum Oktober führte Leu zusammen mit einem Kollegen Woche für Woche bis zu 150-köpfige Gruppen durchs Land. Das Jungfraujoch war der das Highlight. Eigentlich. «Die Amerikaner waren vor allem an zwei Sachen interessiert: Uhren und Frauen.» Und Frauen seien leichter zu erringen gewesen als Uhren.

Einmal baten verzweifelte Eltern ihn um Hilfe. Sie vermuteten ihre Tochter auf dem Hotelzimmer eines amerikanischen Soldaten. Gemeinsam mit den Eltern suchte er in Luzern Hotel für Hotel ab. Irgendwann hätten sie die Tochter gefunden. Da aber verschwimmen seine Erinnerungen.

War auch er als Reiseleiter beliebt bei den Frauen? Nein, sagt Leu. Sie seien ja arme Würstlein gewesen. Kein Geld, alte Kleider, keine Erfahrung. Aber: Er war begehrt als Vermittler. Und er hatte Zugang zu amerikanischen Zigaretten, Camel und Chesterfield. Später wird Leu einräumen, dass er für manche Frauen doch nicht so uninteressant gewesen war. Und zwar für amerikanische. Im Armeelager in Mülhausen, von wo die Reise durch die Schweiz startete, waren auch Helferinnen, Funkerinnen und das Spitalpersonal stationiert. Schwarze Soldatinnen hätten ihm dort Jazztanz beigebracht. Er habe Jazz geliebt.

Leu besitzt nur sieben Fotos aus dieser Zeit. Auf drei Bildern trägt er eine gefütterte amerikanische Fliegerjacke. Einmal auf einem Liegestuhl gefläzt, einmal stehend im Wald, einmal im Garten. «Ich habe die Jacke noch jahrelang getragen», sagt er. Das Geschenk eines G.I.‘s. Sie überstand den Absprung der 101. Luftlandedivision, die 1944 über der Normandie einfiel. Seine Frau habe die Jacke später heimlich entsorgt, voller Schaben sei sie gewesen. «Es war das einzige, was ich meiner Frau nie im Leben verziehen habe.»

Leu schliesst das Fotoalbum und lehnt sich zurück in sein sandbraunes Ledersofa. Draussen fällt Regen. Seine Frau steht nun in der Küche und bereitet das Mittagessen vor. Die Zeit mit den Amerikanern habe er genossen. Mit einigen schrieb er noch Briefe, doch der Kontakt brach ab, als er sich voll und ganz auf sein Medizinstudium fokussierte. Die Briefe habe er nicht aufgehoben. Er sei kein Sammlertyp.

Ein Leben in Angst

Erinnerungen an diese Zeit lösen in ihm auch immer Unbehagen aus. «Es war keine einfache Jugend», sagt er. Leu hatte eine deutsche Grossmutter. Das aber habe seine eigene Bereitschaft zur Verteidigung nie geschwächt. «Bis zu den letzten Kriegsmonaten rechneten wir ja ständig mit einem Angriff.» Es war ein Leben in Angst. Ein älterer Freund, Oberleutnant der Infanterie, sass bei Koblenz in einem Bunker. Dort wartete dieser auf einen Angriff. Nachts habe vor Angst niemand geschlafen, erzählte er Leu.

1940. Blitzkrieg. Die Wehrmacht überrollt Frankreich. Das Gros der Schweizer Armee zieht sich zurück in die Alpen. Zivilbevölkerung und Industrie sind nur noch durch Grenztruppen, leichte Truppen und Territorialtruppen geschützt. Noch im selben Jahr ermächtigt der Bundesrat den General mit der Bildung von Ortswehren. Ein Jahr später zählen diese gut 130’000 Mann. Leu tritt 1942 bei, freiwillig, als 16-jähriger Gymnasialschüler. Die Aufgaben: Bekämpfung von Spionage, Überwachung, Abwehr, Verhindern von Panik, Fallschirmspringer festnehmen.

Offiziell waren die Ortswehren nicht als Kampftruppen vorgesehen. Doch auf lokaler Ebene hatten die örtlichen Kommandanten das Sagen. Und diese interpretierten die Anordnungen von oben auf ihre Weise.

Dies erklärt, weshalb sich Leus Ortswehr-Truppe gegen einen Angriff der Nazis hätte stellen müssen – obwohl der Bundesrat keine Kampfhandlungen für sie vorsah. Hinterfragt wurde dies damals nicht. Auch wurde nie untersucht, wer die Weisung des Bundesrates abänderte. Doch Leu stellen sich heute Fragen: Wie lange hätten wir bestehen können? Was wäre bei einer Gefangennahme passiert? Konnte er als Halbuniformierter gemäss Genfer Konvention als Kämpfer gelten? «Womöglich wären wir als Spione und Heckenschützen hingerichtet worden», sagt Leu und fügt an: «Doch mit 16 denkt man nicht an den Tod.»

Leu und seine Frau sitzen am Tisch; sie schöpft ihm Kartoffeln, Bohnen und Blutwurst auf den Teller. Verheiratet sind sie seit 62 Jahren. Noch heute durchweht ihn immer wieder der Gedanke, dass er bei einem Angriff die Panzersperren hätte verteidigen müssen, und wohl gefallen wäre. Heroisch sind seine Erinnerungen nicht. Das Kriegsende machte ihn nicht zum Helden.

Die Ortswehr-Soldaten legten das alte Gewehr auf den Haufen, warfen Feldjacken und Wollmützen in die Kisten, verabschiedeten sich, drückten ein Paar Hände, und verliefen sich in alle Winde.

Seine Eltern zogen an der Panzersperre bei ihrem Garten Brombeeren und Himbeeren hoch. Später, als Leu das Haus erbte, spielten seine Kinder auf den Betonklötzen.