Sie hat sich zum Titel geschraubt

Selina Giycomini Swiss Skills1000 Lehrlinge aus 70 Berufen kämpften an den Swiss Skills in Bern um die Schweizer-Meister-Titel . Ein Blick über die Schulter der 18-jährigen Velomechanikerin Selina Giacomini.

 

 

Limmattaler Zeitung / 22-09-2014 Swissskills_Reportage, zum Interview

Bei der ersten Aufgabe zittern ihre Hände und sind schweissnass. «Anfangs konnte ich kaum die Speichen halten», sagt Selina Giacomini. Dann geht es besser. Speiche um Speiche setzt sie ins Rad ein — hoch konzentriert. Nach sechs Stunden und vier Aufgaben hat sie den ersten Tag gemeistert. Die 18-jährige Dietikerin trat am Donnerstag und Freitag im Rahmen der Swiss Skills gegen sieben andere Velomechaniker an. Alles Männer. Es ging um den Schweizer-Meister- Titel .

Dass Selina Giacomini einen Männerberuf lernt, stört sie nicht. Anfangs dachte sie, in der Berufsschule kämen dumme Sprüche — doch die kamen nicht. Auch nicht im Geschäft. Nur zwei, drei Mal wollte sich ein Kunde nicht von ihr bedienen lassen.

Nicht ihr Traumberuf

Die Aufgaben sind knifflig. Erst mussten Giacomini und ihre Konkurrenten eine absenkbare Sattelstütze einstellen. Dabei handelt es sich um eine Hydraulikvorrichtung, mit der man vom Lenker aus den Velosattel automatisch hoch- und herunterfahren kann. Schwierig sei es gewesen, sagt Giacomini und reibt sich an ihren Hosen die Hände trocken, ihre Fingernägel sind frisch lackiert. In zehn Minuten geht es weiter mit der nächsten Aufgabe.

Velomechaniker war nicht ihr Traumberuf. Eigentlich suchte sie eine Lehrstelle als Gestalterin Werbetechnik. Doch selbst als gute Sek-A-Schülerin fand sie keine — zu gross war die Konkurrenz. Was ihr fehlte, war ein gestalterischer Vorkurs. Eine Leidenschaft Giacominis öffnete jedoch eine neue Tür: Seit Jahren fährt sie erfolgreich an kantonalen und nationalen Mountainbike-Rennen mit. 2009 gewann sie in ihrer Kategorie den Zürcher Gesamtcup. Ihr Trainer, Roger Hügli, fragte, ob sie nicht in seinem Velo-Geschäft in Urdorf schnuppern wolle. Nach einer Woche wusste Giacomini, dass sie Velomechanikerin werden will. Handwerkliche Arbeit, das gefiel ihr.

Wochen spezieller Vorbereitung

Morgens um halb neun ist die Halle noch fast leer. Giacomini öffnet eine riesige Kartonschachtel, zieht den türkisgrünen Rahmen eines Mountainbikes heraus. Danach etliche mit Zellophan umwickelte Pakete: Pedale, Schaltung, Bremsen, Radkranz, Kabel. Den Rahmen spannt sie in den Bock ein, auf der Werkbank breitet sie die Teile aus, an der Wand tickt die Uhr. Innert eineinhalb Stunden muss das Velo fahrbar sein. Ein Experte beobachtet sämtliche Handgriffe. Und diese sitzen bei Giacomini. Zuerst schraubt sie die Federgabel ein, dann den Lenker. Eine Schraube fällt zu Boden. Sie bleibt konzentriert.

Nach und nach füllt sich die Halle. Zwei Schüler stützen sich auf die Absperrung. «Geiles Bike», sagt ein dritter, der zu ihnen stösst. Auch Giacominis Vater ist gekommen. Stolz sei er und auch erstaunt, wie schnell sie arbeitet. Selina sei schon immer sehr ehrgeizig gewesen, sagt er.

Auf den Wettkampf hat sie sich speziell vorbereitet: Eine Woche durfte sie in einem Unternehmen arbeiten, das Federgabeln herstellt. An einem Tag lernte sie in einem Rennvelo-Geschäft alles über elektronische Schaltungen. Und im eigenen Lehrbetrieb übte sie immer wieder, Speichen zu montieren.

Nach über einer Stunde steht das Bike. Nun folgt der schwierigste Teil: die Feineinstellungen. Giacomini dreht am Hinterrad. Sie schaut, schraubt , kontrolliert, schaltet, justiert. Mehr und mehr Zuschauer drängen sich an den Stand. Manche fotografieren, manche filmen. Auch ihr Freund ist gekommen. Sogar ein Lehrer aus Dietikon schaut bei ihr vorbei. Er sei mit seiner Klasse hier, eine 2. Sek. Die Schüler halten Ausschau nach einem möglichen Lehrberuf. Selina kenne er, weil sie seine Klasse einmal auf einer Velotour im Tessin begleitet habe.

Zuletzt ganz oben

Giacominis Handgriffe werden hektischer. Sie riegelt an der Gangschaltung, hört, schraubt . Wieder und wieder. Schweissperlen glänzen auf ihrer Stirn. Die Zuschauer schauen gebannt. Geschafft. Der Experte schreibt die letzten Notizen. Sie habe es ganz gut gemacht, sagt er. Zehn Minuten zu früh sei sie fertig gewesen. Mehr will er noch nicht sagen. Denn die Arbeiten müssen erst ausgewertet werden. «Ich habe ein gutes Gefühl», sagt Giacomini. Ihre Hände sind schwarz, der Nagellack etwas abgekratzt.

Die Strapazen haben sich für Giacomini letztlich gelohnt: An der Schlussfeier am Sonntagabend wird sie zur strahlenden Siegerin gekürt. Es sei ein schönes Gefühl, freut sich die junge Dietikerin – besonders, «weil ich in einem Beruf gewinnen konnte, bei dem man es von einer Frau nicht erwartet.»

Zum Interview mit Selina Giacomini: Giacomini_Sonntagsgespräch